Die Robinsonaden

Die Robinsonade ist ein Romantypus, der vom Schicksal einer auf einer einsamen Insel gestrandeten Person oder Gruppe handelt. Reiseerlebnisse und Lebensgeschichte der Robinson-Figur(en) werden dabei eng verknüpft, und der Inselraum erhält eine zentrale Funktion für den Inhalt und die Struktur der Erzählung. Robinsonaden enthalten oft Züge anderer Gattungen, wie dem Reisebericht, dem Schelmenroman, der Utopie, dem Abenteuerroman oder der Idylle. Teilweise ist der Aufenthalt auf der einsamen Insel auch nur eine von mehreren abenteuerlichen Episoden der Geschichte.

Vor allem der durchschlagende Erfolg von Daniel Defoe’s Roman führte dazu, dass dieser zum titelgebenden Paradigma der Gattung wurde, obwohl es den literarischen Stoff des auf einer einsamen Insel Gestrandeten natürlich schon lange vorher gab. Robinson Crusoe ist seit seinem Erscheinen 1719/20 einer der meistadaptierten Romane der Literaturgeschichte. Der Begriff ‘Robinsonade’ wurde daher bereits im 18. Jahrhundert durch Rezensenten und Rezensentinnen eingeführt, um die grosse Anzahl an Nachahmungen zu benennen.

Vorläufer dieser Textsorte gibt es seit der Antike. Vor allem im Barock entstanden einige bekannte Texte mit Inselmotiv im Zentrum, bei denen auch das zeitgenössisch aktuelle Thema der Entdeckungsexpedition erkennbar miteinfloss, wie beispielsweise H. Nevilles Satire The Isle of Pines von 1668 oder auch Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1669). Sowohl diese Robinsonaden avant la lettre als auch Robinson Crusoe waren von historischen Quellen über schiffbrüchige Seefahrende inspiriert. Wohl in Anlehnung daran verfasste Defoe seinen Roman im Stil eines Erlebnisberichts: Er ist in Ich-Form erzählt und wurde mit einer Herausgeberfiktion gerahmt, die das Erzählte authentifizieren soll.

Variationen dieses Stilmittels finden sich auch in vielen anderen Robinsonaden. Doch während beispielsweise Simplicissimus auf einer Insel landet, wo Nahrung im Überfluss vorhanden und ein Leben voll Muße möglich ist, wird erst mit Robinson Crusoe der mühselige Überlebenskampf in unbekannter Umgebung mit wenigen Hilfsmitteln zum zentralen Motiv der Gattung. Auch die enge Verknüpfung von Reise und Biographie sowie die damit verbundene Selbstreflexion der Hauptfigur sind charakteristisch für Defoes Roman. Im Gegensatz zu den schablonenhaften Schelmen- und Abenteurerfiguren der älteren Inselromane, steht bei Defoe die Charakterentwicklung und religiöse Bekehrung eines detailliert ausgestalteten Individuums im Zentrum.

1762 wird Defoes Robinson vom einflussreichen Aufklärer Jean-Jacques Rousseau in seinem Erziehungsroman Emile ou de l’éducation als erste Lektüre für Kinder empfohlen, weil darin alle „natürlichen Bedürfnisse des Menschen“ (Rousseau 389) in für Kinder nachvollziehbarer Weise gezeigt würden. Dieser Impuls wird prägend für die Gattungsgeschichte: Er positioniert Robinson Crusoe als pädagogisch wertvolle Kulturerzählung, in welcher modellhaft die Stadien der Gesellschaftsentwicklung vorgeführt werden. Das bezeugen die zahlreichen Bearbeitungen des Romans für Kinder und Jugendliche in der Folgezeit. Die bekannteste unter ihnen, Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder (1779/80), wird zum erfolgreichsten deutschen Kinderbuch überhaupt.

Der Stoff bleibt auch im 19. Jahrhundert relevant. Es entstehen unzählige ‚lokale‘ Varianten, die nahe am ursprünglichen Stoff bleiben – wegen ihres internationalen Erfolgs besonders nennenswert ist dabei die ‚Familienrobinsonade‘ Der Schweizerische Robinson des Pfarrers Johann David Wyss aus dem Jahr 1812. Im 20. Jahrhundert kommt es zu zivilisationskritischen und dystopischen Adaptionen wie Jean Giraudoux’ Suzanne et le Pacifique (1921) – übrigens bei weitem nicht die einzige ‚weibliche ‚Robinsonin‘‚ – oder auch William Goldings Jugendroman Lord of the Flies (1954) sowie Marlen Haushofers Die Wand (1963). Die Gattung nähert sich nun auch immer mehr dem Zukunftsroman und der Science-Fiction an und wandert über in moderne Medien, ohne allerdings ganz von den zentralen Gattungsmerkmalen abzuweichen: Der Spielfilm The Martian (Ridley Scott, 2015), in dem ein Astronaut auf dem Mars strandet, ist unschwer als Robinsonade zu erkennen.

Text: Sina Chiavi

Quellen:

  • Bitterli, Urs. Die ‘Wilden’ und die ‘Zivilisierten’: Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. 2. Durchgesehene und erweiterte Aufl. München 1991 (1976).
  • Brunner, Horst. „Kinderbuch und Idylle. Rousseau und die Rezeption des Robinson Crusoe im 18. Jahrhundert“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 2 (1967), S. 85–116.
  • Dunker, Axel. „Robinsonade“. In Dieter Lamping (Hg.). Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 622–626.
  • Dunker, Axel. „Abenteuerroman“. In Dieter Lamping (Hg.), Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 1–8.
  • Reckwitz, Erhard. Die Robinsonade: Themen und Formen einer literarischen Gattung, Amsterdam 1976 (=Bochumer anglistische Studien, Bd. 4).
  • Rousseau, Jean-Jacques. Emile oder über die Erziehung, hg. v. Martin Rang. Stuttgart 1963.
  • Schmitt, Claudia: „Vom Leben jenseits der Zivilisation. Ein vergleichender Blick auf das Verhältnis von Mensch und Natur in der Robinsonade“. In Evi Zemanek (Hg.), Ökologische Genres, Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik. Göttingen 2018, S. 165–180.
  • Torke, Celia. Die Robinsonin: Repräsentationen von Weiblichkeit in deutsch- und englischsprachigen Robinsonaden des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2011.
  • Wagner, Walter. „Die ökologische Insel. Defoes Robinson Crusoe und Yourcenars Un homme obscur„. In Claudia Schmitt / Christiane Sollte-Gresser (Hg.), Literatur und Ökologie: Neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2017, S. 119–128.