Crusoe und die Konsumkultur

Unter den vielen Büchern in der Robinson-Bibliothek finden sich auch einige merkwürdige Gegenstände des Alltagslebens, die man nicht in den Regalen eines Literaturarchivs erwarten würde: eine Thunfisch-Dose, einige Blätter hauchdünnen Einwickelpapiers für Orangen, ein Tablett mit kleinen Portionen Kaffeesahne. Ein näherer Blick verrät, dass sie alle mit Szenen aus Robinson Crusoe bedruckt sind. Doch was hat Defoes Roman überhaupt mit solchen gewöhnlichen Konsumgütern zu tun?

Gestrandet auf seiner einsamen Insel ist Robinson Crusoe ständig damit beschäftigt, Güter des alltäglichen Lebens zu beschaffen, haltbar zu machen und zu verzehren. Sein Überleben hängt davon ab, so viele Gegenstände wie möglich aus dem Schiffbruch zu bergen oder von Grund auf herzustellen, was er braucht: Möbel, irdene Töpfe, Kleidung, sowie Brot und Bier. Der Wert dieser Dinge liegt nicht darin, wieviel Geld sie gekostet oder eingebracht hätten, sondern wie lange sie ihm das Überleben auf der Insel ermöglichen. Seiten um Seiten seines Tagebuches – geschrieben mit Papier und Tinte, die er ebenfalls vom Wrack gerettet hat – sind gefüllt mit Listen der Dinge, die er besitzt und benutzt. Er führt auch eine Liste, um sich über seine verzweifelte Situation klar zu werden, oder wenn er Entscheidungen treffen und dabei schiere Notwendigkeit gegen Gewissen und Glauben abwägen muss. Dabei hört er sich an wie ein Kaufmann: „Ich hielt unvoreingenommen fest, gleichsam als Soll und Haben, welche Bequemlichkeiten ich genoss gegenüber den Unannehmlichkeiten, die ich erlitt“ (Robinson Crusoe, 106). Dem Literaturwissenschaftler Ian Watt zufolge weisen dieses Anhäufen von Gütern sowie die Gewohnheit, über materielle wie spirituelle Dinge Buch zu führen, Crusoe als homo oeconomicus aus, als den Prototyp eines materiellen Menschen (Watt 49).

Im Großbritannien des frühen achtzehnten Jahrhunderts wurde dieser materiell denkende, wirtschaftliche Interessen verfolgende Mensch zum Vorbild einer erstarkenden Mittelschicht, die aus Händlern, Ladenbesitzern, Kaufleuten und anderen Berufen bestand. Werten wie Fleiß, der Würde der Arbeit, ökonomischer Unabhängigkeit und individueller Freiheit wurde große Bedeutung beigemessen. Gott, so glaubte man, begünstige diejenigen, die diese Werte vertraten; Reichtum galt als Belohnung für ein gottgefälliges Leben. Robinson verkörpert diese Eigenschaften, selbst wenn er mit Ängsten und Zweifeln hadert, und er kehrt als reicher Mann nach England zurück. Dass dieser Reichtum von seiner Plantage in Brasilien stammt, die mit Sklavenarbeit betrieben wird, stört weder ihn noch, soweit wir wissen, Defoes erste Leserschaft.

Daniel Defoe selbst kann als ein homo oeconomicus gelten: ursprünglich arbeitete er als Kaufmann, der Güter vom Kontinent importierte, und wurde dann ein unternehmerischer Journalist, der seine Schriften für einen literarischen Markt verfasste und verkaufte. Bevor er seine Romane schrieb, veröffentlichte Defoe eine große Anzahl von Aufsätzen zu wirtschaftlichen Themen wie dem Binnenmarkt oder internationalen Handelsbeziehungen, welche er oft kritisch sah (Markley 306). Sein großer Erfolg als Wirtschaftsjournalist spiegelt das breite Interesse der Bevölkerung an diesen Themen: Handel galt nicht nur als ein Beruf oder eine Frage des nationalen Wohlstands, sondern als etwas, das jedermanns Leben betraf. Dank des Imports von Luxusgütern aus Europa, aus Asien und aus den Kolonien der neuen Welt wurde Großbritannien schnell zu einer veritablen Konsumkultur: Wein, Öl, Gewürze, Tabak, Zucker, Tee, Kaffee, Seide und andere kostbare Stoffe, Lackmöbel und Porzellan aus China, Gemälde, Kunstgegenstände oder auch exotische Vögel wurden alle von wohlhabenden Haushalten in England gekauft und konsumiert. Teil der Faszination solcher Konsumgüter – damals wie heute — war, dass man durch sie ökonomischen Erfolg und gesellschaftlichen Status ausstellen konnte.

Doch diese florierende, durch den Kolonialhandel gestützte Konsumkultur barg auch die Möglichkeit von Scheitern und Ruin. Crusoes eigener Schiffbruch ist ein warnendes Beispiel für den Verlust von Schiffen und ihrer Ladung, die oftmals den Bankrott von Handelsunternehmungen und Investoren bedeutete. Investitionen in den Überseehandel waren zu dem Zeitpunkt eine populäre Form der Geldvermehrung geworden, gerade so wie der Aktienhandel es heute ist. Und wie heute konnten auch damals die Dinge fürchterlich schieflaufen: im Jahr 1720, gerade mal ein Jahr nachdem Defoe seinen ersten Roman und dessen Fortsetzung geschrieben hatte, in der Robinson eine Handelsreise durch den Indischen Ozean und den Südpazifik unternimmt, platzte die sogenannte ‚South Sea Bubble‘. Bei dieser Spekulationsblase verloren tausende von kleinen Anlegern und Grossinvestoren, die Anteile an der South Sea Trading Company gekauft hatten, fast all ihr Geld, als der erhoffte Gewinn ausblieb und der Wert der Handelsgesellschaft um 80 Prozent einbrach. Wurde Crusoes abgeschiedene Insel-Existenz als heilsame Warnung gesehen, dass man auch den schlimmsten Schiffbruch überstehen kann? Oder war der Schiffbruch symbolischer Ausdruck einer tiefsitzenden Verunsicherung, die den Glauben an den modernen Kapitalismus und die Konsumkultur aushöhlte? (Markley 309)

Eine Dose Thunfisch, oder eine Orange, oder ein Döschen Kaffeerahm mögen uns in unserer globalisierten Welt der Lieferketten und ständigen Verfügbarkeit nicht gerade luxuriös vorkommen. Doch die Faszination des exotischen Konsumgutes wird durch den Namen ‚Robinson Crusoe‘ und durch die aufgedruckten Szenen aus dem Roman heraufbeschworen, was der Grund sein mag, warum Defoes Held überhaupt zu Werbezwecken ausgewählt wurde. Die hauchdünnen Einwickelpapiere zielen klar darauf ab, die Orangen Kindern schmackhaft zu machen: sie sind im Stil eines Comic-Books gehalten und stellen leicht wiederzuerkennende Momente aus Robinsons Leben dar. Eine Version zeigt, wie er Holz sägt, eine Schildkröte fängt, Ziegen jagt, Getreide pflanzt, oder in Gesellschaft seines schlafenden Hundes ein Buch liest. Eine andere ist weniger erbaulich: hier werden seine gewaltsamen Begegnungen mit den eingeborenen ‚Wilden‘ und seine Rettung Freitags gezeigt, wobei die Eingeborenen auf grob vereinfachende, karikaturhafte Weise gestaltet sind, mit Baströcken und Knochenschmuck, dicken Lippen und krausem Haar. Der Roman beschreibt sie nie auf diese Weise: was wir sehen, sind rassistische Stereotype, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch immer kursierten. Die Kaffeerahm-Döschen scheinen auf den ersten Blick gemäßigter und subtiler. Das komplette Set von 20 Döschen erzählt Robinson Crusoes ganze Geschichte, von seinem Aufbruch bis zur Rückkehr nach Hause. Vier davon zeigen ihn in der Gesellschaft Freitags, wobei die Figur des Eingeborenen immer in einer devoten oder unterlegenen Haltung erscheint, während Crusoe eindeutig der Herr über jede Situation ist.

Die Thunfischdose ist der am wenigsten problematische Gegenstand, vielleicht weil er keine Bilder sondern nur den Namen ‚Robinson Crusoe‘ verwendet. Tatsächlich ist dies der Name eines Lebensmittelkonzerns, der 2010 gegründet wurde und zur spanischen Unternehmensgruppe Jealsa gehört; er vermarktet Fisch, der vor den Küsten Brasiliens und Chiles gefangen wurde, wobei laut der Unternehmenswebseite nur traditionelle, nachhaltige Fangmethoden zum Einsatz kommen. Der Firmenslogan lautet „Das Leben ist gut mit ROBINSON CRUSOE!“ und einige Produkte werden damit beworben, dass sie „Aus den reinen Gewässern der Robinson Crusoe Insel“ stammen. Mit seinem selbsterklärten Ziel, nachhaltige Fischerei mit Umweltbewusstsein und sozialer Verantwortung zu verbinden, scheint dieses Unternehmen den negativen Bildern kolonialer Ausbeutung, die so lange mit dem Namen von Defoes Romanheld verbunden waren, eine positive Vision für die Zukunft entgegen setzen zu wollen.

Text: Isabel Karremann

Quellen:

  • Defoe, Daniel. The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe. Bd. 1 von The Novels of Daniel Defoe. Hg. von W.R. Owens. New York: Routledge, 2008.
  • Kwass, Michael. The Consumer Revolution, 1650–1800. Cambridge: Cambridge University Press, 2022.
  • Markley, Robert. „Economics“, in Daniel Defoe in Context, hg. von Albert J. Riviero und George Justice. Cambridge: Cambridge University Press, 2023. 305–329.
  • Owens, W. R. et al. The Political and Economic Writings of Daniel Defoe. New York: Routledge, 2001.
  • Watt, Ian. The Rise of the Novel [1957], London: Penguin Books, 1963.
  • https://just2ce.eu/case-studies/case-study-jealsa-rianxeira-wesea/
    Das EU-finanzierte Forschungsprojekt JUST2CE untersucht derzeit die wirtschaftlichen Kreislaufansätze, die den Produktionsprozessen und dem Anspruch auf Nachhaltigkeit der Unternehmensgruppe Jealsa, zu der ROBINSON CRUSOE gehört, zugrunde liegen.
  • https://robinsoncrusoe.com.br/en/home-english/
    Unternehmenswebsite mit Informationen zu ethischen Richtlinien und der ‚we sea‘-Kampagne für soziale Verantwortung und Umweltbewusstsein.