Robinson in der graphischen Kunst

Seit der Roman vor über 300 Jahren veröffentlicht wurde, sind Illustrationen ein wesentlicher Grund für die breite Beliebtheit von Robinson Crusoes. Die meisten Ausgaben in der Sammlung haben wunderschön illustrierte Einbände und in vielen lassen sich außerdem Karten und Zeichnungen entdecken. Dazu kommen auch einige Werke, die keine Bücher an sich sind, sondern vielmehr in den Bereich bildende Kunst gehören, oder die formale Neuinterpretationen in einem visuellen Medium darstellen.

Unter anderem beherbergt die Robinson-Bibliothek etwa eine Reihe von Holzschnitten des brasilianischen Künstlers Jorge Borges. Borges wurde beauftragt, mit diesen Darstellungen neue Zugänge zu Robinson Crusoe zu erschliessen. Seit 2001 befindet sich eine Serie von sieben Holzschnitten im Besitz der Robinson Library. Ausgestellt sind sowohl die Original-Holzschnitte als auch die auf deren Basis angefertigten Druckgrafiken. Sie bilden eine spannende Szenenwahl aus Defoes Roman, der mit seinen vielen realistischen, detaillierten Lebensbeschreibungen selbst höchst grafische Qualitäten aufweist. Borges ist ein Künstler, der hauptsächlich mit Holzschnitten arbeitet.

Deren Herstellung erfordert akribische Handarbeit und die Erstellung eines 3D-Reliefnegativs, mit dem Drucke hergestellt werden können. Robinson Crusoes Überlieferungsgeschichte überschneidet sich mit der dieses Mediums: Vor Jahrhunderten machte der Buchdruck Romane zu einem Massenmedium und führte auch zur Verbreitung und zum Erfolg von Defoes Roman. Und ohne die Erfindung der Druckerpresse hätte Borges Robin Crusoe überhaupt nicht in seinen Holzschnitten neu interpretieren können.

Borges Holzschnitte vollziehen die äusserliche Verwandlung des Protagonisten Robinson Crusoe nach: Sie zeigen, wie sich ein gut gekleideter, gepflegter und rasierter Mann in einen Überlebenskünstler mit langem, ungepflegtem Haar verwandelt, der bei seiner Begegnung mit Freitag mit grossem Hut und Gewehr ausgestattet ist. Welche Szenen stellt Borges dar und warum? Und welche Schlüsselmomente des Romans lässt er aus? Von „Die Abreise“ über „Auf dem Boot“ bis hin zu „Schiffbruch“ und der darauffolgenden „Ankunft auf der Insel“ zeigt Borges Szenen, die Fans von Robinson Crusoe bekannt sein mögen. Überraschenderweise gibt es aber keinen Holzschnitt, der darstellt, wie Robinson mühsam Gegenstände aus dem untergehenden Schiff rettet. Gleiches gilt für den berühmten Fussabdruck im Sand. Waren Borges Entscheidungen technisch bedingt? Hat seine Auswahl eine bestimmte Ästhetik hervorgebracht, die sich aus seiner langjährigen Arbeit als Künstler ergibt? Können uns diese sieben Szenen eine weitere, andere Geschichte erzählen?

Ein Objekt in der Sammlung, das Robinson Crusoes Geschichte tatsächlich anders erzählt, trägt den Titel Montagmorgen – Freitagabend. Dieses einzigartige, winzige Buch, das ausschließlich Illustrationen beinhaltet und nur 9,5 x 6,0 Zentimeter misst, lässt sich zwischen den grösseren Bänden des Archivs nur schwer finden. Es wurde von Massimo Milano geschaffen, einem aus Italien stammenden, aber in der Schweiz lebenden Künstler und Illustrator. Dieser Zwerg unter Riesen hat es wirklich in sich, denn die Geschichte erhält durch die interessante Darstellung im Bild überraschende Wendungen. Wir sehen den gut gekleideten Geschäftsmann Crusoe am Montagmorgen und folgen ihm durch den Tag, an dem er sich in einen langbärtigen, Hut tragenden Vagabunden mit Papagei auf der Schulter verwandelt – ganz ähnlich wie in Borges‘ Holzschnitten.

Zwei von Milanos Illustrationen stechen jedoch durch ihren unversöhnlichen Kontrast hervor: Ein Bild zeigt Crusoe und Freitag in leidenschaftlicher Umarmung; das letzte Bild zeigt Crusoe, wie er wieder einen schicken Anzug trägt, Zigarre raucht und seinen ‚Freitagabend‘ genießt, während er auf dem Rücken von Freitag sitzt, der auf Händen und Knien kauert. Was hat sich im Laufe einer Woche ereignet? Welche Geschichte von ‚zivilisiertem‘ Verhalten und leidenschaftlichen Begegnungen zwischen Menschen wird hier erzählt? Deutet das letzte Bild möglicherweise darauf hin, dass zivilisiertes Verhalten mit der Unterdrückung der eigenen Gefühle und der Unterdrückung anderer verbunden ist?

Text: Yunus Durrer
Übersetzung: Timothy Holden

Quellen:

  • Blewett, David. “The Iconic Crusoe: Illustrations and Images of Robinson Crusoe”. In The Cambridge Companion to ‘Robinson Crusoe’, hg. von John Richetti. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 159–19.
  • Mueller, Andreas. “’To Us the Mere Name Is Enough’: Robinson Crusoe, Myth, and Iconicity”. In ‘Robinson Crusoe’ after 300 Years, hg. von Andreas Mueller und Glynis Ridley. Lewisburg, PA: Bucknell University Press, 2021, 183–201.