Robinson in China

Wer weiß schon, dass Robinson Crusoe auch nach China reiste? Nach seiner Rückkehr nach England am Ende des ersten Teils ist er begierig darauf, seine Insel wiederzusehen und die Welt zu erkunden. Wie viele Kaufleute des achtzehnten Jahrhunderts reist er in den Fernen Osten. Nach langen Aufenthalten im Golf von Bengalen und in Indonesien gelangt er gemeinsam mit einigen portugiesischen Seeleuten und einem Jesuitenpriester an die Südküste Chinas. Gemeinsam reisen sie in den Norden des Landes und machen in den beiden berühmtesten Städten dieser Region Halt – Nanquin (Nanjing) und Peking (Beijing). Crusoes Begleiter Pater Simon ist von China sehr angetan. Seiner Meinung nach ist Peking die „großartigste Stadt der Welt“, mit der „euer London und unser Paris zusammengenommen nicht mithalten können“ (Farther Adventures, 169). Seine Beschreibung ist vermutlich inspiriert von zeitgenössischen Abbildungen des berühmten Porzellanturms von Nanjing.

Im achtzehnten Jahrhundert war China für Luxusgüter wie Porzellan, Tee und Seide berühmt. Der Import und Konsum dieser Waren beeinflussten britische Vorstellungen von Zivilisation und Ästhetik substanziell. Dementsprechend hatte China einen erheblichen kulturellen Einfluss auf Großbritannien. Gleichzeitig wurde das Land auch als ein riesiger Markt für Geschäfte angesehen. Als einer seiner Reisegefährten Crusoe vom regen Handel zwischen China und Europa erzählt – „es war eine große Karawane moskowitischer und polnischer Kaufleute in der Stadt“ – schmiedet Crusoe eifrig Pläne, sich dem Asienhandel anzuschließen: „Wir können womöglich alle möglichen Fabrikate des Landes kaufen und vielleicht einige chinesische Djunken oder [andere] Schiffe aus Tonquin finden, die zu verkaufen wären und uns und unsere Waren dorthin bringen würden, wo auch immer es uns gefällt.“ (Farther Adventures, 178, 172).

In Wirklichkeit jedoch brachte der chinesische Markt große Schwierigkeiten für die britische Wirtschaft mit sich. China exportierte exotische Luxusgüter zu einem hohen Preis, während es an europäischen Produkten weitgehend uninteressiert blieb. In New Voyage Around the World (1725) formulierte Defoe seine Kritik an der für den Asienhandel charakteristischen negativen Handelsbilanz. Die Passage bringt auch ein beschämendes Gefühl der Minderwertigkeit zum Ausdruck: „[W]ir führen nichts oder nur sehr wenig anderes als Geld dorthin, da die zahllosen Nationen der Indischen Inseln, Chinas &c. unsere Manufakturen verachten und uns mit ihren eigenen füllen.“ (New Voyage, 155) Crusoe scheint dieses Gefühl der wirtschaftlichen Unterlegenheit zu teilen, was sich zunehmend in seiner tiefen Abneigung gegenüber der chinesische Kultur äußert: „Wenn ich das elende Volk dieser Länder mit dem unseren vergleiche, ihre Fabriken, ihre Lebensweise, ihre Regierung, ihre Religion, ihren Reichtum und ihren Ruhm, wie manche es nennen, muss ich gestehen, dass ich es nicht einmal für erwähnenswert halte, oder für wert, dass ich darüber schreibe, oder dass jemand, der nach mir kommt, es liest.“ (Farther Adventures, 173) Ist dieser herabsetzende Vergleich eine zutreffende Beschreibung Chinas oder vielmehr ein Versuch, Crusoes Glauben an die Überlegenheit der europäischen Kultur aufrechtzuerhalten?

Crusoe ist eindeutig kein Bewunderer des Chinas seiner Zeit. Im modernen China ist Robinson Crusoe jedoch nach wie vor einer der beliebtesten Romane. Der Roman wurde bereits in der späten Qing-Dynastie (Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts) in China eingeführt. Robinson Crusoe wird weniger zum literarischen Vergnügen als zu didaktischen Zwecken gelesen. Aufgrund der unterschiedlichen pädagogischen Zwecke im chinesischen Kontext veränderte sich das Bild von Crusoe erheblich. Während des Antijapanischen Krieges (1937–1945) wurde Crusoes Geschichte etwa als Beispiel verwendet, um Kinder auf die Gefahren von Imperialismus und Kolonialismus aufmerksam zu machen. Nach dem Krieg war die Wirtschaft des Landes am Boden zerstört, und musste wieder aufgebaut werden. Daher wurde Crusoes Geschichte in der Nachkriegszeit als Propagandamittel eingesetzt, um junge Menschen zu ermutigen, sich an der Entwicklung des Landes zu beteiligen. Die Verfilmungen der Geschichte konzentrierten sich folglich auf Crusoes Bemühungen, auf der Insel zu überleben, während die koloniale Dimension der Geschichte in den Hintergrund rückte. Heute ist Robinson Crusoe eine der vom chinesischen Bildungsministerium vorgeschriebenen Lektüren für Schüler der Sekundarstufe.

Die asiatischen Versionen von Robinson Crusoe in der Robinson-Bibliothek sind meistens solche, die für junge Leser angepasst sind. Dieses Exemplar wurde beispielsweise von der Foreign Language Teaching and Research Press herausgegeben, die 1979, ein Jahr nach der Reform und Öffnung Chinas, von der Beijing Foreign Studies University gegründet wurde. Das Buch gehört zur unter chinesischen Schülern sehr bekannten „Bücherwurm“-Reihe. Ziel dieser Reihe ist es, Englischlernenden mit begrenztem Wortschatz zu helfen, englische Romane zu lesen. Deren Anzahl stieg nach dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 stark an. Zwanzig Jahre später ist Crusoes Roman problemlos in den Regalen von Sekundar- und Oberstufenklassen zu finden.

Text: Peiwen Liang
Übersetzung: Timothy Holden

Quellen:

  • Defoe, Daniel. A New Voyage Round the World by a Course Never Sailed Before, hg. von George A. Aitkin. London: Dent, 1902.
  • Defoe, Daniel. The Farther Adventures of Robinson Crusoe; Being the Second and Last Part of his Life. Vol. 2 von The Novels of Daniel Defoe, hg. von W.R. Owens und P. N. Furbank. New York: Routledge, 2007.
  • Kyung Min Eun. China and the Writing of English Literary Modernity, 1690–1770. Cambridge: Cambridge University Press, 2018.
  • Markley, Robert. “Crusoe’s Farther Adventures and the Unwritten History of the Novel.” In A Companion to the Eighteenth-Century English Novel and Culture, hg. von Paula R. Backschneider und Catherine Ingrassia. Oxford: Blackwell, 2005. 25–47.
  • Richetti, John. “Eurocentric Crusoe: The Farther Adventures of Robinson Crusoe.” Études Anglaises 72.2 (2019): 213–224.
  • Zhang, Xinke (张新科). “清末民国语文教育阐释《鲁宾逊漂流记》:违慈训少年作远游遇大风孤舟发虚想”. 文汇报, 08 Juni 2018; https://wenhui.whb.cn/zhuzhan/xueren/20180608/200273.html (letzter Zugriff 07. Juli 2024).