Stellen Sie sich vor, jemand hätte Robinson Crusoe von seiner tropischen Insel in die Kälte Grönlands versetzt, um einen ‚arktischen Robinson‘ zu schaffen. Diese Idee mag schwer vorstellbar sein, aber zwei Bücher in der Sammlung, der autobiografische Bericht von Ejnar Mikkselsen, Ein arktischer Robinson (1913), und der Abenteuerroman Nuvat the Brave: An Eskimo Robinson Crusoe (1934) von Radko Doone, tun genau das. Gestrandet im ewigen Eis, müssen ihre Helden gegen eine überlebensfeindliche Umwelt kämpfen.
Diese beiden arktischen Crusoe-Versionen sind Ejnar Mikkelsen, ein tatsächlicher dänischer Polarforscher und Schiffskapitän, und Nuvat, ein fiktiver zwölfjähriger Inuit; beide brechen auf in das weit entfernte, eisige Grönland. Während Mikkelsen mit einem Mitglied seiner Schiffscrew aufbricht, um unbekannte Teile Grönlands zu erkunden, wird Nuvat von seiner Familie getrennt als eine Eisscholle abbricht und ihn mit seinem Hund aufs arktische Meer hinaustreibt. Beide finden sich an unbewohnten, kalten, entlegenen Orten wieder, wo sie sich an eine extreme, menschenfeindliche Umwelt anpassen müssen.
Keiner der beiden Schiffbrüchigen begegnet einem anderen menschlichen Wesen in dieser Isolation. Dies ist eine interessante Abweichung von Defoes Originalversion, denn die Abwesenheit einer fremden Zivilisation bedeutet auch die Abwesenheit von Kolonialismus, ein prominentes Thema in Robinson Crusoe. Zudem haben Mikkelsen und Nuvat grossen Respekt vor der Umwelt, in der sie sich befinden. Eine Szene in Nuvat the Brave sticht besonders hervor, weil sie eine berühmte Passage aus Defoes Roman wiederholt: dort blickt Crusoe von einem Hügel über seine Insel und prahlt „Ich war der Herr des ganzen Anwesens; oder wenn ich wollte, könnte ich mich König, oder Kaiser dieses ganzen Landes nennen, von dem ich Besitz ergriffen hatte.“ (Robinson Crusoe, 94) Wie ein Echo auf diese Behauptung unterstreicht der Erzähler in Nuvat, dass „jeder andere Junge, wenn er von einem Hügel aus über eine einsame Insel schaut, auf der er das einzige menschliche Wesen ist, hätte sich wohl gefühlt wie ein König, der über sein Reich blickt, doch so ein Gedanke kam Nuvat nie in den Sinn.“ (Nuvat, 75)
Der Gegensatz zwischen Crusoe und Nuvat wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass Nuvat ein Inuit ist. Die Volksgruppe der Inuit ist im arktischen Raum beheimatet und repräsentiert eine kolonisierte Bevölkerung. Die dänische Kolonisierung Grönlands begann mit der Gründung der Royal Greenlandic Trading Company im Jahr 1721, etwa zur selben Zeit als Defoe seine Crusoe-Geschichten schrieb; sie hält bis heute an. Und während der Protagonist von Mikkelsen’s Arctic Robinson ein dänischer Staatsbürger ist und somit die Kolonialherren repräsentiert, wird diese Rolle in der Erzählung niemals ausgefüllt: vielleicht weil dieses koloniale Erbe zu der Zeit, als der Roman geschrieben wurde, bereits umstritten und problematisch geworden war; oder vielleicht weil der Roman versucht, eine ganz andere Beziehung zur indigenen Kultur der Inuit aufzubauen. Jedenfalls führen beide Texte eine Vielzahl an kulturellen Praktiken der Inuit ein und beschreiben diese detailreich, und beide Helden kehren heim, nachdem sie persönlich gewachsen sind und ein besseres Verständnis für die arktische Lebenswelt erlangt haben.
Doch bevor sie in der Lage sind, nach Hause zurückzukehren, müssen beide sich an die harschen arktischen Lebensverhältnisse anpassen. Anders als Crusoe, der trotz einiger Schwierigkeiten auf seiner tropischen Insel gut lebt, hält das Überleben im Eis mehr Herausforderungen bereit: das Wasser, in dem die arktischen Robinsons auf Seehunde Jagd machen, ist eisig kalt, und hineinzufallen birgt die tödliche Gefahr einer Unterkühlung. Und anders als Crusoe, dessen Gewehr es ihm ermöglicht, sich alle Gefahren vom Leib zu halten, leben im Eismeer bedrohliche Kreaturen wie Wale und Walrösser, während Polarbären über das Eis streifen. Begegnungen mit ihnen werden ziemlich ungemütlich für Nuvat und Mikkelsen: sie unterstreichen die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers fernab der Zivilisation und ihrer technologischen Hilfsmittel. In diesem Sinne haben diese Texte auch eine ökokritische Botschaft für uns heutzutage, da die Polarkappen unter dem Einfluss menschlicher Technologien weiter abschmelzen.
Text: Sofia Zumsteg
Übersetzung: Isabel Karremann
Quellen:
- Doone, Radko. Nuvat the Brave. An Eskimo Robinson Crusoe. Philadelphia, 1934.
- Mikkelsen, Ejnar. Ein arktischer Robinson. Leipzig, 1913.
- Boyle, Tiffany, und Jessica Carden. “Nordic Colonialism and Indigenous Peoples.” In The Palgrave Encyclopedia of Imperialism and Anti-Imperialism, hg. von Immanuel Ness und Zak Cope. New York: Palgrave Macmillan, 2021, 2101–107.
- Naum, Magdalena und Jonas M. Nordin (Hg.). Scandinavian colonialism and the rise of modernity: Small time agents in a global arena. New York: Springer, 2013.