Ein Schwarzer Crusoe

Ein schwarzer Mann unterwirft sich seinem weißen Herrn: Robinson Crusoe lehrt Freitag „Ja, nein, Herr“ zu sagen. Diese Bilder stehen im Zusammenhang mit Defoes Robinson Crusoe als ein Roman über den Kolonialismus, charakterisiert durch die in vielen illustrierten Ausgaben enthaltene Schlüsselszene der kolonialen Unterwerfung. Doch eine Robinsonade aus dem neunzehnten Jahrhundert kehrt dessen Struktur um: Le Crusoe Noir des französischen Autors Alfred Séguin (1877; englische Übersetzung als The Black Crusoe 1879) versetzt einen Schwarzen in die Position des aufgeklärten Meisters und macht einen Weißen von seiner Hilfe und Weisheit abhängig. Der Protagonist Charlot hat sogar das Original gelesen und nimmt dazu Bezug, als er sagt, dass er „ein schwarzer Crusoe“ sei, der sich Robinson zum Vorbild nimmt.

Der junge, schwarze Sklave Charlot wuchs gemeinsam mit seinem Herrn George de Merville in der Karibik auf. Im Gegensatz zum schlauen und netten Charlot, ist George jedoch gemein und benutzt seine Stellung als Sohn eines reichen Plantagenbesitzers, um Charlots Leben zu erschweren. Die Beiden kommen durch zwei separate Schiffsbrüche auf dieselbe Insel: Charlot lebte dort schon bereits für einige Jahre, als sein Ziehbruder dasselbe Schicksal erlebt. Charlot rettet und pflegt ihn und bringt ihm Güte, Großzügigkeit und Geduld bei. Letztendlich wird George durch diese empfindsame Erziehung ‚zivilisiert‘ und lehrt, Charlot zu respektieren und zu lieben. Gemeinsam erleben sie einige Abenteuer, bevor sie schlussendlich sicher nach Hause zurückkehren.

The Black Crusoe war für seine Zeit revolutionär: während Sklaverei in den Französischen und Britischen Kolonien sowie den Vereinigten Staaten bereits abgeschafft war, glaubten Viele immer noch, dass Schwarze minderwertig seien und es verdienten, versklavt zu werden. Jedoch ist Charlot gebildet, eloquent, gütig, mutig und gewillt, sein Wissen mit anderen zu teilen. Er verkörpert alle stereotypischen Eigenschaften, die von einem aufgeklärten, weißen Christen erwartet wurden, mit einer einzigen Ausnahme: seiner Hautfarbe. Tatsächlich bricht die Tatsache, dass er die gleiche Ausbildung wie ein weißer Junge erhielt, aber viel mehr davon profitierte, mit dem Glauben an eine natürliche Überlegenheit der Weißen.

Im Zentrum von The Black Crusoe steht die Erziehung des „Wilden“, doch in diesem Roman ist der Wilde der weiße Mann George: Ihm fehlt es nicht an Wissen, sondern an Moral. Die Geschichte zeigt, wie er sich entwickelt und auf das reagiert, was Charlot ihm beibringt. Am Anfang hilft Charlot einem gestrandeten George, am Ende hilft George einem kranken Charlot.

Beide Illustrationen konzentrieren sich auf Georges Fortschritte: Er ist die zentrale Figur, sowohl als derjenige, dem geholfen wird, als auch als derjenige, der hilft. Doch der Hintergrund des Bildes verrät uns viel über Charlot: Das Gewehr an der Wand signalisiert seine Fähigkeit, sich zu verteidigen und anderen Schutz zu bieten; die Bücher im Regal zeigen seine Liebe zum Lernen. Der Hund als treuer Begleiter deutet an, was die beiden Jungen füreinander werden könnten.

Dennoch reproduziert The Black Crusoe durchaus eine problematische Rassenhierarchie. Während der schwarze Protagonist einem weißen Herrn gleichgestellt wird, stellt der Roman eine andere Rasse als natürlich minderwertig dar: Charlot selbst ist ein Kolonisator und betrachtet die Ureinwohner der Insel, die ‚Kariben‘ (heute Kalinago) als ‚Wilde‘. Wie Robinson Crusoe im Original nimmt er an, dass es sich bei ihnen um Kannibalen handelt, und betrachtet sie in Darstellungen genauso misstrauisch, wie es ein weißer Kolonisator tun würde.

Später versucht er auch, sie zu erziehen. Hier wird Charlot als kulturell überlegen dargestellt, während seine Lehren als ein notwendiger Prozess der ‚Zivilisierung‘ angesehen werden. Alles in allem ist The Black Crusoe durchweg ein Artefakt des neunzehnten Jahrhunderts: Der Roman versucht zwar, die rassistische Ideologie des Kolonialismus in Frage zu stellen, ist aber dennoch sehr weit von späteren Robinsonaden wie Michel Tourniers Freitag (1968) oder J.M. Coetzees Foe (1982) entfernt, die die Rollen- und Rassenhierarchien von Defoes Roman tatsächlich umkehren.

Text: Larissa Bison
Übersetzung: Timothy Holden

Quellen:

  • Carey, Daniel. „Reading Contrapuntally: Crusoe, Slavery and Postcolonial Theory“. In The Postcolonial Enlightenment: Eighteenth-Century Colonialism and Postcolonial Theory, ed. by Daniel Carey and Lynn Festa. Oxford: Oxford University Press, 2009, 105–136.
  • Boyle, Charles. “Robinson Crusoe at 300: Why it’s time to let go of this colonial fairytale.” The Guardian, 19 April 2019, www.theguardian.com/books/2019/apr/19/robinson-crusoe-at-300-its-time-to-let-go-of-this-toxic-colonial-fairytale. Last access 31 June 2024.
  • Séguin, Alfred. The Black Crusoe. Illustrations by H. Scott, F. Meyer, F. Méaulle. London: Marcus Ward, 1879.
  • Todd, Dennis. „Robinson Crusoe and Colonialism“. In The Cambridge Companion to ‘Robinson Crusoe’, ed. by John Richetti. Cambridge: Cambridge University Press, 2018, 142–156.