Weibliche Robinsons

Die meisten von uns kennen die Geschichte von Robinson Crusoe, einem Mann, der auf einer einsamen Insel strandet. Aber haben Sie sich jemals gefragt, wie sich die Geschichte verändern würde, wenn Crusoe eine Frau wäre? Das ist das Anliegen der ‚weiblichen Robinsonaden‘. Geschichten über weibliche Schiffbrüchige tauchten schon bald nach der Veröffentlichung von Defoes Roman auf, was auf eine Faszination für die Erkundung einer alternativen Perspektive auf konventionelle Robinsonaden hindeutet. Diese Robinsonaden haben in der Regel eine weibliche Protagonistin und wurden oft von Autorinnen für junge Leserinnen geschrieben. Sie befassen sich in der Regel mit dem, was zu einer bestimmten Zeit als ‚richtiges‘ Verhalten für ein Mädchen oder eine Frau galt, und dienen somit als Spiegel für die Entwicklung der weiblichen Emanzipation: Die hilflosen Heldinnen früherer Werke wandeln sich zu unabhängigeren Frauen, die nicht auf die Hilfe anderer angewiesen sind (Smith 159). Unabhängig davon, ob sie traditionelle Geschlechternormen bestätigen oder kritisieren, können solche Adaptionen von Robinson Crusoe dazu dienen, dem Schweigen von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen in der männerzentrierten Darstellung von Defoes Roman und späteren Robinsonaden entgegenzuwirken (siehe Plate).

Unter den vielen Beispielen, die in der Robinson-Bibliothek zu finden sind, stechen drei Texte aus dem 20. Jahrhundert – Miss Robinson Crusoe (1902), The Girl Crusoes (1912) und Die Wahrheit über Roberta Crusoe! (1986) – hervor. Ein wichtiges Handlungselement, das diese weiblichen Robinsonaden verändern, ist die Interaktion zwischen ihren Versionen von Crusoe und Freitag: Die Beziehung ist weitaus freundschaftlicher und gleichberechtigter als die von Herrn und Knecht. Im Kinderbilderbuch Miss Robinson Crusoe (1902) zum Beispiel heiraten die Heldin und der weibliche Freitag, genannt Donnerstag, sogar am selben Tag. Dennoch bleibt Donnerstag Frau Crusoe untertan: In der Hochzeitsillustration steht sie im Hintergrund, in einer anderen sieht man sie Frau Crusoe das Haar kämmen. Im wohl fortschrittlicheren deutschen Comic von 1986, der ursprünglich in der feministischen Zeitschrift Emma veröffentlicht wurde, sind Roberta Crusoe und eine weibliche ‚Mittwoch‘ ein Liebespaar: Die Beziehung ist ausdrücklich romantisch und sexuell, und die Figuren heiraten einander. Am Ende kehren sie gemeinsam nach England zurück, wo sie ein Reisebüro für abenteuerlustige Frauen eröffnen wollen.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für eine gleichberechtigte Dynamik zwichen den Protagonisten und der Freitag-Figur findet sich in The Girl Crusoes (1912). Dessen Protagonistinnen sind drei Schwestern, die Fangati, dem weiblichen Pendant zu Freitag, ihre Namen beibringen und sich bemühen, auch ihren Namen zu lernen. Ausserdem lernen sie auch einige Wörter in Fangatis Muttersprache und bringen ihr Englisch bei. Dieser Sprachaustausch ist ein Zeichen für eine gleichberechtigte und kooperative Beziehung zwischen den Figuren. Außerdem zeugt er von Respekt vor der Kultur der Eingeborenen und signalisiert ein fehlendes Interesse an der Kolonisierung der Insel. Defoes Crusoe hingegen macht sich nie die Mühe, nach dem Namen seines Gefährten zu fragen, sondern nennt ihn nach dem Tag, an dem er ihn gerettet hat, ‚Freitag‘) und bringt ihm zunächst nur die Wörter „Herr“, „Ja“ und „Nein“ bei, während er sich daran macht, den „Wilden“ zu zivilisieren. Die unvoreingenommene Aufwertung indigener Kulturen, welche weibliche Robinsonaden wie The Girl Crusoes verkörpern, hat jedoch ihren Preis: Um als weibliche Abenteuerfiguren akzeptabel zu bleiben, wird von den Mädchen erwartet, dass sie auf der Insel das Modell der häuslichen Weiblichkeit replizieren, indem sie eine mütterliche, fürsorgliche Beziehung zu Fangati entwickeln, die dadurch infantilisiert wird (Doughty 64).

Die Kontraste zu Defoes ursprünglichem, männlich geprägtem Modell sind nicht nur auf die Beziehungen zwischen den Figuren beschränkt, sondern betreffen fast jeden Aspekt der Geschichte. Während Defoes Crusoes beispielsweise Ziegen jagt und mühsam Mais anbaut, gehen seine weiblichen Gegenspielerinnen fischen und sammeln Früchte: Ihre Überlebensmethoden sind wohl weniger nachhaltig und fortschrittlich als die von Crusoe, der weiß, dass er jahrelang auf der Insel überleben muss; seine weiblichen Gegenspielerinnen hingegen scheinen von Tag zu Tag zu leben. Für die Protagonistin des Comics Roberta Crusoe (1986) ist die Beschaffung von Lebensmitteln nicht einmal ein Thema. Zwar wird gezeigt, wie sie phantasievolle Gerichte mit exotischen Früchten oder rohem Fleisch kreiert, doch wird im Comic nie erwähnt, woher die Zutaten kommen. Im Allgemeinen fällt ihr das Leben auf der Insel leicht – wo Robinson litt und sich abmühte, findet Roberta Gefallen daran, verschollen zu sein, was auf ein (feministisches) Gefühl der Befreiung, Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit hindeutet. Ein weiterer Aspekt, der sich stark vom Original unterscheidet, sind die scheinbar ‚weiblichen‘ Prioritäten, die einige dieser Figuren haben, wie etwa Kleidung waschen und ihr Haar kämmen, was für den ursprünglichen, männlichen Crusoe kein Thema war. Wenig überraschend wirft Roberta Crusoe alle Normen des zivilisierten Verhaltens über Bord und läuft nackt herum; die Crusoe-Mädchen des frühen 20. Jahrhunderts hingegen legen großen Wert auf ihr Äußeres und genießen alle Pflichten, die mit ihrer Schönheit und Sauberkeit verbunden sind.

Diese und andere Beispiele zeigen die vielseitigen innovativen Wege und Möglichkeiten der Neuerfindung der Beziehung zwischen Crusoe und Freitag in weiblichen Adaptionen. Weibliche Robinsonaden zeigen, dass die Änderung des Geschlechts des Protagonisten die Handlung in signifikanter Weise verändert und dazu dient, die gesellschaftlichen Ansichten über die Geschlechter zur Zeit des Schreibens zu reflektieren. Einige dieser Texte untermauern etablierte Geschlechterrollen, andere kritisieren und untergraben sie. Sie alle zeigen aber, wie eine weibliche Perspektive für verschiedene Leser – und wohl auch für verschiedene Zeiten – völlig unterschiedliche Erzählungen eröffnet.

Text: Melanie Lawi
Übersetzung: Isabel Karremann

Quellen:

  • [anon.] Miss Robinson Crusoe: The story of a desert Isle. London: Humphrey Milford, c. 1902.
  • Becker, Franziska. “Die Wahrheit über Roberta Crusoe!” Emma, 1986, Heft 12: 56-57.
  • Blackwell, Jeannine. „An Island of Her Own: Heroines of the German Robinsonades from 1720 to 1800.“ German Quarterly 58.1 (1985): 5–26.
  • Doughty, Terri. „Deflecting the Marriage Plot.“ In Colonial Girlhood in Literature, Culture and History, 1840–1950, hg. von Kristine Moruzi und Michelle J. Smith. New York: Palgrave Macmillan, 2014. 60–78.
  • Fair, Thomas. „19th-Century English Girls‘ Adventure Stories: Domestic Imperialism, Agency, and the Female Robinsonades.“ Rocky Mountain Review of Language and Literature 68.2 (2014): 142–158.
  • Owen, C. M. „The Critical Fortunes of Robinson Crusoe.“ In The Female Crusoe: Hybridity, Trade and the Eighteenth-Century Individual. Leiden: Brill, 2010. 21–40.
  • Plate, Liedeke. Visions and Re-visions: Female Authorship and the Act of Rewriting. Indianapolis: Indiana University Press, 1995.
  • Smith, Michelle J. „Nineteenth-Century Female Crusoes: Rewriting the Robinsonade for Girls.“ In Victorian Settler Narratives: Emigrants, Cosmopolitans and Returnees in Nineteenth-Century Literature, hg. von Tamara S. Wagner. London: Routledge, 2015. 165–176.
  • Strang, Herbert Mrs. The Girl Crusoes: A Story of the South Seas. Illustrated in colour by N. Tenison. London: Henry Frowde, 1912.